Harriet Groß – Corium Poetry

Harriet Groß . Corium Poetry

30.04.2011 – 28.05.2011

  1. Harriet Groß arbeitet mit Metallfolie in Schwarz, Papier in Weiß, Sicherheitsgurten, Schnüren und Glasobjekten. In raumbezogenen Installationen arrangiert sie ihre Arbeiten zu Gruppen und Konstellationen. Man könnte sagen sie zeichnet im Raum. Oder : man könnte sagen ihre Arbeiten sind im Raum unterwegs.

  2. In langen Arbeitsprozessen schneidet sie feinste Strukturen aus der Metallfolie, gleich Scherenschnitten oder Schattenspielen. Doch welche Geduld und Akribie ist hier zu Gange! Schnell wird deutlich, dass es sich nicht etwa um manische Fleißarbeit handelt. Die an dem Motiv verbrachte Zeit ist kein selbstquälerisches Abarbeiten. Die Herstellungszeit entspricht vielmehr genau der Dauer, diese Sache oder Gegebenheit freizulegen, die die Künstlerin ins Visier genommen hat. Sie umgeht damit oberflächlicher Effektivität und erreicht höchste Effizienz.

  3. Mit dem Cutter aus Metallfolie ausschneiden, die feinst mögliche Haarlinie ziehen. Was hier bearbeitet wird ist nicht das Motiv oder dessen Negativ, sicher, beim Schneiden bleibt etwas übrig und etwas fällt weg, aber der Vorgang des Ritzens ist die Beschreibung einer Grenze und ob am Ende das Loch das Motiv ist oder das Restmaterial, bleibt unergründbar wechselnd. Harriet Groß beschreitet und beschreibt Grenzen und wenn wir dann genau hinschauen und ihr folgen, erkennen wir, dass diese Grenze ein multidimensionaler Raum ist, ineinander verschränkt, ein Klumpen aus Grenzen.

  4. Die Künstlerin beobachtet wie das Denken zum Machen wird, oder etwas diese Schwelle übertritt, zwischen Realitäten oder Welten. Dieser Bereich, an dem sich Wechsel einstellt. Meist sind dies kurze Momente, die wir kaum beachten, wir betreten einen Raum, blättern eine Seite im Buch um oder treten aus der Bahn auf die Straße. Unbemerkt wechseln wir Körperhaltung, Denkrichtung und Wesensinhalt. Mehr denn je huschen wir durch Welten und multiplizieren unsere Identitäten.

  5. Die Schwelle ist meist nur eine Linie, eine kleine Ritze oder eine Falte. Schnell durchschritten, übergangen, durchquert. Sie macht keinen Lärm oder fordert uns, außer es handelt sich um eine sich sträubende Schiebetür. Wir sind unterwegs, manchmal rastlos, beschleunigen, bremsen, wir sind im Fluss. Doch halt, machen wir eine Pause, einen Zwischenstopp auf diesem schmalen Grat zwischen zwei Welten. Genau an diesem Punkt, wo das, was war, vergeht und das, was kommt, aufscheint. Wenn wir dies tun, treffen wir garantiert auf Harriet Groß. Sie hat sich hier ihre Zone eingerichtet, ihr Forschungslabor.

  6. Scheinbar fassbar führt uns die Künstlerin über Polaritäten in ihre Zone: Schwarz/Weiss, Material/Loch, Linie/Fläche, Fläche/Raum, Abstraktion/Gegenständlichkeit. Doch Vorsicht! Ein Spinnennetz ist auch keine Fläche, sondern eine Ebene mit tödlicher Tiefe, nur dass die Künstlerin uns nicht verputzt, aber gleichwohl lockend einnimmt. Das was aussieht wie ein klares Bekenntnis zum Ja und Nein, zum Sein und Nichtsein oder mathematisch zur Null und zur Eins, entpuppt sich als Auffächerung von unendlichen Möglichkeiten, in einem Schmelztiegel der Auflösung.

  7. Schon hasten wir nach Sicherheiten, Wiedererkennung, Wissen. Und die Künstlerin auch. Sie stattet uns mit Motiven aus. Silhouetten, Schatten und Horizonten. Wurzeln, Antennen, Kameras, Pflanzen, Schuhen, Landschaften, Architekturfragmenten, Möbeln – Glück gehabt! Vorerst. Denn immer noch befinden wir uns im Grenzbereich und hier entfaltet sich die wahre Dimension der wunderbaren Arbeiten von Harriet Groß. Wir wandern so am Erwartungshorizont entlang und wieder passiert es, dass das Bild, das Wiedererkennen, die Erinnerung zum Raum wird. Und was für einer, Etwas wächst nach unten, anderes sendet zum Himmel, Dinge, die uns beobachten, uns tragen, vorwärts, seitwärts, in alle Richtungen.

  8. Wären Harriet GroßArbeiten Fabriken, würde dort gebohrt, angereichert, entwickelt, geforscht, veredelt, herausgeputzt, verwoben, durchdrungen und umrissen. Es würde ein Produkt entstehen, welches so etwa Raumweltdichteerkundungswerkzeuganleitungserzeuger hieße. Mit ihm ließen sich feine Fäden spinnen. Wir setzten es an die schwellen unserer Lebensräume. Die Schwellen schwöllen. Zuerst unbemerkt zöge sich ein feines Gespinst hindurch, um uns am Ende die Vielheit im Nichts zu zeigen. Allerdings bliebe auch nichts mehr am Platz.

  9. Wir könnten aber über eine unvoreingenommene Strukturanalyse des Zwischenraums die Restrisiken unseres Lebensraumes neu bewerten und kämen zu dem Ergebnis, dass sich in jeder Falte und Schwelle unseres Raums und unserer Zeit eine unendliche Fülle auftut. Sich darauf einlassen, erfordert den Verlust von bekannter Sicherheit und Struktur. Doch die Handlungsanweisung der Künstlerin, der wir hier folgen sollten, heißt:beherzte Akribie im Machen, dabei Wurzeln schlagen, nach oben senden, den Sicherheitsgurt einrollen und gegen Laufschuhe eintauschen.

Daniel Kerber

2011.

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